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Zwischen Ankunft und Abfahrt, immer wieder
Zwischen Ankunft und Abfahrt, immer wieder

Es muss im Kreuz gewesen sein. An einem der Holztische, an denen damals noch geraucht wurde.Oder im alten Spanier, wo noch mehr geraucht wurde und das Licht grell war, rundherum Tortilla gegessen und Carajillo getrunken wurde. Es könnte auch im Nati gewesen sein, am runden Stammtisch, wo Stumpen geraucht wurden. Oder in der Färbi, wo andere Stumpen die Runde machten. Auf jeden Fall war es auf einer Beizentour, auf jeder Beizentour war es, dass uns gesagt wurde und später wir sagten, man müsse weg von Olten.

Nichts wie weg von hier!

Für immer oder wenigstens für heute Abend. Nach Bern, Zürich, Basel musste man. Ins ISC, ins Kaufleuten, ins Tis. Zur Not taten es auch Zofingen und Aarau, der Ochsen und das Kiff. Immer auf der Flucht waren wir, wie eine Sucht war es. Eine Sucht nach Flucht, die wohl auch eine Flucht vor der Sucht war. Denn Sucht gab es damals in Olten, eine sichtbare Sucht.

Es waren die späten Achtziger oder schon die frühen Neunziger, als Olten im Drogenranking weit oben war. Einen Spitzenplatz belegte die Stadt, direkt nach dem Platzspitz. «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» hatte ich gelesen, als ich noch in der Primarschule war, jetzt, in meiner Jugend, kamen die Bilder dazu, nicht im Fernsehen, sondern vor der Haustür. Auf meinem Schulweg sah ich Fixer sitzen, die sich eine Spritze setzten. Und nachts, wenn sie schwitzten, hörte ich sie schreien.

Auch Züge hörte ich, der Bahnhof war nicht weit weg. Der Bahnhof ist in Olten nie weit weg, weder in Gehminuten noch in Gesprächen. Und vielleicht gehört das Wegwollen zur DNA einer Eisenbahnstadt, symbolisiert im Nullstein, der auf Gleis zwölf im Sektor C zu sehen ist. Vom Nullstein aus wurde einst das Bahnnetz vermessen. Von ihm führen alle Gleise weg: zweiundsechzig Kilometer nach Bern, fünfundfünzig Kilometer nach Zürich, achtunddreissig Kilometer nach Basel.

Also fuhr ich weg. Nach Bern, Zürich, Basel. Fürs Studium, für den Job, für den Freund. Manchmal auch nur acht Kilometer nach Zofingen. Oder dreizehn Kilo­meter nach Aarau. Hauptsache weg.

Führen alle Wege weg von Olten, führen auch viele Wege zurück nach Olten.

Und so kam ich immer wieder zurück. Aus Bern, Zürich, Basel. Vom Studium, vom Job, vom Freund. Auch später, nach der Jahrtausend­wende, kam ich zurück. Aus Peru und Paris, Tadschikistan und Tiflis. Immer wieder zurück nach Olten kam ich.

Irgendwann beschloss ich zu bleiben und Olten wurde wieder zum Nabel meiner Welt, einer Welt, die nun eine andere war. Im Kreuz wurde nicht mehr geraucht. Den alten Spanier gab es nicht mehr. Das Nati hiess jetzt anders. Die Färbi war abgerissen worden. Auf dem Weg zur Schule lagen keine Spritzen mehr. Und ich hörte niemanden mehr sagen, man müsse weg von hier. Oder höchstens für einen Tag. Nach Bern, Zürich, Basel. Auf den Gurten, den Uetli, den Rhein.

Auch in die Ferne, denn immer wieder hatte ich Fernweh. Zu lange war ich weg gewesen, zu sehr Nomadin geworden, als dass ich in Olten noch einmal hätte heimisch werden können. So galt nun auch für mich, was Peter Bichsel einst über sich geschrieben hatte: «Olten wurde mir nicht zur Heimat, aber meine Heimat wohnte in Olten.»

orte-Literaturzeitschrift Nr. 229
zum Thema «Im Zug und in Olten»
erschienen im November 2024