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Kopfreisen im Appenzellerland
Kopfreisen im Appenzellerland

Meine Gedanken waren woanders, als ich in Urnäsch zum Bahnhof ging. Wo sie waren, könnte ich nicht mehr sagen. Irgendwann sah ich ein Postauto, das anhielt, Leute, die ausstiegen und einen Inder, der vor mir stehenblieb. Ein Inder, der vor mir stehenbleibt und fragt, ob ich Englisch rede. Yes, I do. Er streckt mir ein Bild entgegen, das vor wenigen Jahren um die Welt ging. Der Inder will wissen, wann ein Zug dorthin fährt. Ich fahre an denselben Ort, sage ich und nenne die Abfahrtszeit, deute dabei mit der Hand auf Gleis zwei und in die Richtung, in welche der Zug fahren wird. Als wollte er mich für meine Antwort belohnen, zeigt er mir Fotos, die er soeben auf dem Säntis gemacht hat: Selfies mit Felsen, einem Bergsee und kaum mehr Schnee.

Ob es ihm in der Schweiz gefalle, frage ich den Inder, und er wackelt mit dem Kopf. Er wackelt mit dem Kopf und mir ist, als würde der Inder nicht mit seinem, sondern mit meinem Kopf wackeln und dadurch Erinnerungen aus den Tiefen meines Gehirns nach vorne schütteln. Im Nu werde ich hier, am Bahnhof von Urnäsch, vom Säntis nach Madurai katapultiert. Ich stehe vor einem hinduistischen Tempel, neben mir ein Mann, der ebenfalls mit dem Kopf wackelt. Die südindische Sonne brennt, brennt sosehr, dass die Inderinnen einen Schirm aufspannen, wenn sie über das Tempelgelände gehen. Eine von ihnen kommt lächelnd auf mich zu und klebt mir einen Punkt auf die Stirn.

Als die Appenzeller Bahn einfährt, blicke ich zum Inder, der am Ende des Bahnsteiges stehengeblieben ist und jetzt die Einfahrt des roten Zuges filmt. Ob er den Punkt sieht, der mir soeben vor siebzehn Jahren hier auf Gleis zwei vor einem südindischen Tempel aufgeklebt wurde? Der Inder tut so, als habe er nichts bemerkt. Mit zwei Fingern fahre ich über meine Stirn und erinnere mich daran, dass der Punkt schon nach wenigen Minuten abgefallen war. Ich steige in den Zug und setze mich ans Fenster.

Die Schienen zeichnen eine enge Linkskurve, so dass der Zug nach wenigen Sekunden parallel zum Bahnhof fährt, jetzt aber in die Gegenrichtung. Enger kann man eine Kurve nicht bauen, enger konnte auch ich keine Kurve bauen mit den Schienen der Holzeisenbahn, die ich vor vielen Jahren zu Weihnachten bekommen hatte. Und genau solche Kurven, daran erinnere ich mich wie wenn es gestern gewesen wäre, baute ich als Kind am liebsten. Die Kurve war für mich erst vollendet, wenn die Schienen vorher und nachher parallel zueinanderstanden. Dann hängte ich jeweils eine in die Gegenrichtung gebogene Schiene an. Auch die Appenzeller Bahn fährt jetzt nach rechts und schlängelt sich zwischen zwei Hügeln hindurch.

Ich höre, wie die Bahn in der Kurve quietscht. Die meisten Fenster des Wagens sind geöffnet, manche einen Spalt nur, andere bis zur Hälfte. Das gleichmässige Rattern erinnert mich an die U-Bahn in Paris. Ich schliesse die Augen und stelle mir vor, ich sei mit der Métro unterwegs zum Trocadéro. Doch bald schon weht mir der herbe Duft von frisch geschnittenem Heu ins Gesicht und erinnert mich daran, dass ich auf dem Land bin, in meinem Land bin.

Als ich die Augen wieder öffne und aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Nonne, die durch einen Klostergarten geht. Wandelt, geht mir durch den Kopf, durch einen Klostergarten wandelt die Nonne, in Gedanken vertieft oder in ein Gebet. Kurz danach bremst die Bahn und ich könnte den Kronberg sehen, wenn ich nach rechts schaute. Doch nach rechts schaue ich nicht, denn ich habe den Dreiklang gehört, mit dem mein Telefon das Eintreffen einer Nachricht ankündigt.

Es sind meine Eltern, die mir ein Foto geschickt haben mit der Frage: «Wo?» Ich vergrössere das Bild auf dem Display, erkenne die Aareschlaufe und die Berner Altstadt, dann antworte ich: «Im Rosengarten». Anschliessend öffne ich Facebook und scrolle durch die Neuigkeiten. Ein Freund fliegt nach Samarkand, ein anderer liegt im Sand. Und noch ein Freund am Strand in Italien, einer in Spanien, einer in Australien. Eine Freundin aus Armenien teilt Fotos von einer Kinderaufführung: Mädchen als Blumen verkleidet und Buben als Bäume tanzen Reigen.

Es kommt mir vor, als wäre ich überall mit dabei.

Derweil habe ich nicht bemerkt, wie wir an Gonten vorbeifuhren, am Golfplatz und an Gontenbad. Ich könnte nicht einmal sagen, ob der Zug seit Jakobsbad angehalten hat.

Es kommt mir vor, als wäre ich nirgends so richtig.

«Stell’ Dir vor, Du wärst überall und nirgends», schreibe ich einem Freund und keine Minute später antwortet er mit einem Fragezeichen. Er ist bei der Arbeit, denke ich, sonst wäre gewiss auch er überall und nirgends. Ich lege das Telefon weg und schaue aus dem Fenster, als wir in Appenzell einfahren.

Währenddem einige Fahrgäste aussteigen und andere ein, beobachte ich durch das Fenster eine junge Frau, die auf einer Bank sitzt, Stöpsel in den Ohren und Computer auf den Knien. Ich schaue ihr zu, wie sie in den Bildschirm lacht und redet. Mit wem sie im Gespräch ist, frage ich mich. Vielleicht mit jemandem in Laos, in Las Vegas, in Lauterbrunnen oder am Landsgemeindeplatz. Jedenfalls mit niemandem hier am Bahnhof, auch nicht mit der älteren Frau, die neben ihr sitzt und zu meinem Wagen schaut, in jedes Fenster, auch zu mir schaut. Ein Blick, den ich nicht erwidere, sondern weiterleite an ihre Nachbarin, Stöpsel in den Ohren und Computer auf den Knien, die nicht einmal bemerkt, dass ein Spatz um ihre Füsse hüpft und an ihren Schuhen pickt. Sie sieht aus, als wäre sie überall und nirgends.

Wir alle wären überall und nirgends, wenn wir unseren Gedanken folgen könnten, der Körper mit dem Kopf auf Reisen ginge, in Urnäsch kurz einen Abstecher auf den Säntis und nach Madurai unternähme, im Zug zurück in die Kindheit führe oder in der Métro durch Paris. Wir würden mit den Eltern durch Bern schlendern, mit einem Freund nach Samarkand fliegen, an den Stränden von Italien, Spanien und Australien liegen oder eine Kinderaufführung in Armenien besuchen.

Und schon wieder habe ich einen Teil der Zugreise verpasst und weiss nicht, ob Weissbad erst kommt oder schon vorbei ist.

Auch ihr wärt überall und nirgends, rufe ich in Gedanken den Kühen auf der Weide zu, wenn ihr nur könntet. Und Sie, die Sie diesen Text lesen oder hören, auch Sie wären überall und nirgends, waren soeben überall und nirgends, in Gedanken jedenfalls, als Sie meinen Reisen folgten und auch jetzt, da Sie noch immer mit mir in der Appenzeller Bahn sitzen, obwohl Sie eigentlich ganz woanders sind.

Beim Aussteigen in Wasserauen begegne ich dem Inder wieder. Vielleicht hat er den Punkt auf meiner Stirn doch bemerkt, denn er richtet nun seine Kamera auf mich. Ich winke, weil ich nicht weiss, was ich sonst tun soll. Lächeln sollte ich vielleicht, also lächle ich. Und stelle mir vor, wie dieses Video bald in Indien zu sehen sein wird und wie mein Lächeln den Inder später, wenn er zurück in Delhi oder Mumbai ist, an seine Reise in die Schweiz erinnert und wie er, in einem klimatisierten Büro vielleicht oder bei seinen Eltern im Dorf, auf die Frage, ob es ihm in der Schweiz gefallen habe, mit dem Kopf wackelt.

Leute gehen an uns vorbei, doch niemand beachtet die Filmszene, in der ich die Hauptrolle spiele. Sie dauert auch nicht länger als zwei, drei Sekunden, denn schon richtet sich die Kamera auf die Gondel, welche von der Alp hinunter zur Talstation fährt, auf die wir nun zusteuern.

Aus der Gondel heraus mache ich ein Foto hinüber zum Hohen Kasten und schicke es mit der Frage «Wo?» nach Bern. Ich sei unterwegs auf die Ebenalp, werden meine Eltern bald antworten und ich frage mich, ob das stimmt, ob ich wirklich hier in der Gondel bin, ob ich je werde behaupten können, hier in der Gondel gewesen zu sein oder ob ich nicht schon wieder woanders bin und nur das eine Foto darauf hinweist, dass ich hier gewesen sein könnte. Wo ich sein werde, frage ich mich, wenn ich später das Wildkirchli fotografiere und wo, wenn ich noch später die Fotos vom Wildkirchli anschaue. Überall und nirgends, vermute ich und nehme mir vor, die Erinnerungen an den Ausflug sorgfältig aufzubewahren, damit sie mich auf meiner Reise ins Überallland und nach Nirgendwo begleiten.

Tagessiegertext beim Schreibwettbewerb Literaturland 2018
zum Thema «Ich wäre überall und nirgends»