Für die Dauer eines Sprachaufenthaltes lebte ich in der Wohnung Nr. 79 im Block Nr. 45 in einem Vorort einer russischen Provinzstadt. Ich war bemüht, mich so gut wie möglich in den Alltag meiner Gastfamilie einzufügen und an den Gesprächen teilzunehmen. Doch das war gar nicht so einfach. Denn meine Russischkenntnisse steckten noch in ihren Anfängen und selbst die elementarsten Redewendungen waren für mich Zungenbrecher. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mir fortlaufend Eselsbrücken auszudenken.
«Gute Nacht» zum Beispiel heisst auf Russisch «spakoinoi notschi». SPA-KOI-NOI-NOTSCHI: SPA wie Wellness, KOI wie der japanische Fisch, NOI wie «wir» auf Italienisch und NOTSCHI wie der Austragungsort der olympischen Winterspiele 2014, –S +N. Bei der Anwendung dieser Eselsbrücke ist nach Möglichkeit auch die Reihenfolge einzuhalten, denn ich bin mir nicht sicher, ob meine Gastfamilie «Koinotschinoispa» oder «Noikoispanotschi» verstanden hätte. Das wäre vermutlich, wie wenn mir jemand am Abend «Gunatecht» oder «Tenagucht» wünschen würde.
Bis ich jedoch diese Kopfreise von Bad Ragaz zum Teich meiner Eltern mit einem Abstecher über Italien ans Schwarze Meer unternommen hatte und die unterwegs gesammelten Silben betont beiläufig in den Flur der Wohnung Nr. 79 im Block Nr. 45 hinausrief, war meine Gastfamilie längst eingeschlafen.
Der Text entstand 2016 in Erinnerung
an einen Sprachaufenthalt.